Der Trick

Lieber DB,

Es regnet.
Wie immer.
Man gewöhnt sich daran, und es ist besser als dieses Wetter, das sich nicht entscheiden kann, ob es gut ist oder nicht. Diese schmutzigweiße Watte, da oben, zwischen den Bäumen. Natürlich habe ich eben alle Regeln der Briefkunst und der Höflichkeit hinterrücks erschossen, damit, dass ich mit mir anfange und nicht mit dir, weil das hat uns Frau Putlinger schon ganz früh beigebracht: Frage zuerst, wie es deinem Adressaten geht, dann kommst du.
Wie geht es dir?
Und dann, wenn man diesen Satz der Bescheidenheit vorrausgeschickt hat, kann man einfach anfangen, mit sich selbst. Und manchmal weiß ich nicht, ob man einen Brief nicht eher schreibt, um sich mit sich selbst zu beschäftigen, als mit dem Gegenüber.
Ich habe festgestellt, dass ich zu wenig Bekannte dritten Grades habe, um jetzt mal gleich mit einer Erkenntnis anzufangen, die signalisiert, dass es nicht um dich geht, hier und jetzt. Es geht um mich. Also: Bekannte/Verwandte/Freunde lassen sich in drei Grade oder meinetwegen Stufen einteilen. Und wehe dir, wenn du mich jetzt des Schubladendenkens beschuldigst, ich glaube, dagegen kann man nichts tun, so funktionieren wir. Du hast eine Menge Karteien und zwischen denen schiebst du die Leute hin und her, wie es dir passt. Bekannte der ersten Kategorie sind die, denen du über den Weg läufst oder die dir über den Weg laufen, das kommt auf die Perspektive an, du kennst sie zwar, du erinnerst ihre Namen, aber ihr grüßt euch nicht. Tut ihr einfach nicht, es ist, als ob ein ungeschriebenes Gesetz zwischen euch steht.. Auf die nächste Stufe steigen die, die dich begrüßen, zwar nicht freundlich, zwar nicht aus dem Bauch heraus, sondern eher aus einer Art Pflichtgefühl. Sie nehmen sich auch nicht soviel Zeit, stehen zu bleiben, sie rennen eher an dir vorbei, wie ein Maschinengewehr schießen sie, ohne dich richtig anzugucken „Hallo.“ Und spurten schnell weiter, wichtige Termine, kennst du ja. Und von den Leuten kenne ich wirklich eine Menge, da kann ich nicht von einem Mangel sprechen. Sorgen macht mir eher Schublade Nr. 3, die Menschen, die man trifft und die, manchmal sogar ein bisschen erfreut, anhalten und zwei, drei Sätze mit dir austauschen, vielleicht sogar ein paar mehr, und selten sogar, bieten sie einem an, irgendwohin mitzukommen. Meistens lehne ich ab, ich bin kein Freund von kurzfristigen Dingen, aber manchmal seufze ich und lasse mich drauf ein. Und dafür lohnt es sich schon, dafür lohnt sich alles.
Man wird ja oft gefragt, wo man sich persönlich später einmal sehe, aber ich kann da im Moment nur verschwommene Schemen erkennen. Und im nächsten Moment ist es wieder völlig schwarz. Klar, ich weiß, was ich am Liebsten machen würde: In einer Großstadt leben und zu irgendwas dazugehören, wenn auch nur als Statist. Aber auch nicht zu lange am selben Ort, eher wie diese springenden Gummibälle, die über den Boden hüpfen als wäre das Leben leicht und unbeschwerlich. Ich glaube, ich möchte leben wie so ein Gummiball: Ein paar Jahre hier, zwei/drei Monate dort und damit beschäftigt sein, fernhinsinnend von Balkonen zu rauchen, irgendwo als Künstler unter frenetischem Jubel der anwesenden Kritiker Farbkleckse auf unschuldigweiße Leinwände klatschen. Hoffentlich ist es nur unser Alter, das uns träumen lässt. Hoffentlich geht das vorbei. Die Synapsen werden umgestöpselt und die Karteien durcheinandergewirbelt, die Karten fliegen aus den Kästen durch unsere Köpfe und lassen uns Dinge sehen, die nicht sind, nie waren und nie sein werden. Das lässt uns von der unendlichen Freiheit sprechen, nur noch unterwegs sein. Und irgendwann, nicht nur an Erfahrung reich, im Alter wollen wir uns niederlassen, irgendwo in der Natur. Aber natürlich wird das nie in die Wirklichkeit wandern. Erst einmal studieren, und das wilde Leben läuft ja nicht weg, später immer noch genug Zeit für so was, das denkst du dir erst und plötzlich liegst du nach einem anstrengenden Büroarbeitstag im Bett, neben deiner Frau, die auch noch Mutter von deinen zwei Kindern ist und erinnerst dich. Einfach weg, denkst du dir, während vor dem offenen Fenster eine Frau in Stöckelschuhen staccato den Lärm des Sekundenzeigers unterstützt, einfach weg. Morgen früh die Sachen packen, in den nächstbesten Zug nach nirgendwo steigen, und auf nimmer wiedersehen, spießiges, altes Leben, auf nimmer wiedersehen. Doch schon in der Dämmerung verfliegen solch düstere Gedanken schnell, weil du zu wenig Geld hast für Träume, und alle würden sich fürchterliche Sorgen machen und gar nicht mehr zurecht kommen, ohne dich. Und es geht alles den Bach runter, zusammen mit dem ganzen Regenwasser, das immer noch fällt. Der fade Geschmack in deinem Mund, der dir immer wieder einflüstert, dass du etwas ändern sollst, der verschwindet mit der Zeit, so wie alles andere, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Deine Träume versickern in dem Sand, der im Getriebe ist, schon immer war.
„Das wilde Leben, auf der einen Seite haben wir wahnsinnige Angst, es zu verpassen, auf der anderen Seite fürchten wir uns davor.“ – so hat es eine Freundin von mir gesagt.
Ich glaube, ich würde es hassen, meine Briefe zu lesen. Sie klingen wahrscheinlich unheimlich resigniert und weinerlich. Ich hoffe, du liest sie gar nicht erst, ich hoffe es. Denn, wie du siehst und wie gesagt, ist das alles nur zum Zweck der Selbsttherapie. Ich fühle mich nicht schlecht, ich bin nicht unglücklich, aber ich brauche das, muss alles in die Welt hinausschreien. Die Worte wollen an die Oberfläche. Vielleicht ist es, weil ich erkenne, dass das hier meine Jugend ist. Das, wovon ich später erzählen muss. Ich habe nachts auf einem Sofa gesessen und plötzlich, ohne Vorwarnung, stellte ich fest, dass das meine Jugend ist. Vielleicht erzähle ich auch soviel, weil ich nichts zu sagen habe und lauter sein will als die Leere. Ich weiß auch nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß gar nichts. Es ist wie ein Taumeln, ein Schwanken. Alles brennt und drei Sekunden später ist schon wieder alles grau. Bis man auf irgendjemanden stößt, der ein Streichholz dabei hat oder ein Feuerzeug, bis die Dinge sich wieder entzünden, bis wieder alles in Flammen steht. Ein Rausch, die Welt rauscht an einem vorbei, als säße man in einem Zug und bleibt dennoch gleichzeitig stehen, als stecke man im Stau.
Manchmal kommt die Verbitterung zu Besuch, meistens, ohne vorher anzurufen. Wir verstehen uns gut. Wir machen Nächte zusammen durch, trinken Cola oder beobachten, wie die Welt ihrem Untergang entgegenrennt. Denn natürlich können auch wir beide das Ticken der Uhr nicht überhören, so grundlegend, wie es das Leben regiert. Und irgendwann läuten die Glocken im Wecker dann nicht zum Aufstehen, sondern den Tod ein. Alles muss sterben, da kann man nichts machen, manchmal ist das unendlich traurig, aber manchmal tröstet es auch, manchmal tröstet es, dass über die Sache mit der Menschheit irgendwann mal Gras gewachsen ist.
Liebe, du gibst also nicht auf, danach zu fragen, was mit der Liebe ist, ich glaube einfach, dass es schon genug Bäume gibt, die ihr Leben lassen mussten, weil jugendlicher Herzschmerz in Buchstaben auf Papier untergebracht werden musste. Aber mach dir bitte keine Sorgen, das solltest du überhaupt nie tun, es gibt Liebe hier, in dieser Welt, es gibt sie und sie leuchtet. Besonders, wenn es dunkel ist.
Dir ist hoffentlich völlig egal, was ich in letzter Zeit so getan und gemacht habe, und weißt du was, ich erzähl es dir trotzdem. Ich habe mich auf Tennisplätzen herumgetrieben. Ich habe mich durch Wartezimmer geblättert, Phoebe war öfter krank, weißt du, und nicht dass du glaubst, dass ich bei uns zuhause den Laden schmeiße, aber unsere Eltern arbeiten ja eigentlich die meiste Zeit ihres Lebens, so kommt es mir auf jeden Fall vor, das ist doch das, wovor wir uns am Meisten fürchten, oder? Ich fürchte mich davor. Aufstehen, arbeiten, schlafen. Und wieder und wieder und wieder. Aber das Nützliche ist, dass die Arbeit ja auch die Gedanken betäubt und deinen Kopf im allgemeinen, sodass man im bestmöglichen Fall gar nicht mehr merkt, wie schlecht es einem geht, die Benebelung bewahrt einen davor.
Lieber DB. Die Zeilen noch, die mir immer durch den Kopf schwirren, in diesen Tagen:
You
You break my heart
You tear me up
In so many parts
One part for you
And one for me
That is how it ought to be.

Es ist spät. Ich habe nachgesehen, es regnet immer noch, aber jetzt ist es schon dunkel, nachts ist alles wunderschön. Im schmutzigen Licht, das durch die Fenster auf die Straße strömt, im Licht der Straßenlaternen.
Ich lese am Besten gar nicht noch mal, was die Worte da oben bedeuten, ich würde sie zerreißen, ich stecke das Papier einfach in den Briefumschlag und schicke ihn dir. Ich glaube, ich sperre noch Löwen mit hinein, Löwen kann man immer gebrauchen und Licht auch und ein Lächeln.

Ich habe mich auch ein paar Mal einfach auf mein Fahrrad gesetzt und bin losgefahren, ohne Ziel, treiben lassen von den Wellen der Menschen und den Wogen der Häuser. Vielleicht ist das schon Freiheit, oder sogar Glück. Man darf es bloß nicht zu oft machen, dann merkt man, dass es das nur vielleicht ist.

Halte durch, das ist der Trick, halte durch.
Dein H.

12 Kommentare:

  1. Captain Fragezeichen spricht uns allen aus dem Herzen.

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  2. Anonym21/8/09

    Du lässt mich, wie soll ich sagen, vielleicht ist träumen das richtige Wort.

    Wenn ich mich so umschaue. Regen. Vielleicht keine der salzig, dreckigen dicken Tropfen, die langsam den Asphalt tränken. Eher so ein Regen, der trüb ist und sehr dunkel. Kennst du diesen Regen, wenn es in deinem Kopf runterprasst und deine sonst so sehenden Augen es nicht mehr schaffen die Sicht zu befreien. So ein Regen umgibt mich zu dieser Zeit. Ich frage mich das zu oft, wann er denn aufhört oder ob es doch etwas angeborenes ist. Schließlich ist ein gewisses Maß an Trauigkeit angenehm oder eher nötig um zu leben. Wenn die Traurigkeit uns nicht manchmal einhüllen würde und umstoßen, dann könnte uns auch keine sanfte Brise Glücklichkeit auf die nächste Wolke tragen. Vergessen sollten wir das nie. Vergessen, was wir haben und tun können. Ich kann fliegen, wenn ich will. Ich kann fallen und schweben, kann schaukeln und taumeln. Weil was wir haben, ein ganzes leben ist und was wir daraus machen können noch so viel mehr als das.

    Mir fällt auf, ich schweife komplett aus.
    Ich wollte dich eigentlich "nur" bewundern für deine Art festzuhalten.

    Mit lieben Grüßen, das Hühnchen.

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  3. solche briefe möchte ich, jetzt, sofort, hundert vielleicht, ich meine warum nicht.
    danke für den text, oder was sagt man(?). wirklich ganz, ganz wunderbar.

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  4. iwouldprefernotto9/1/10

    Ich durchstreife die Nacht als Wächter über das Ungesagte, ich möchte die Augen nicht schließen, es kann jeden Moment soweit sein, dass sich ein Wort löst, unauffällig wird es zu Boden sinken, kann es das Dunkel überleben?

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  5. Ich möchte nicht auf die Charaktere eingehen, die du mit fast noch mehr Leben ausfüllst, als J.D., ich möchte bloß sagen, dass du ... ach ich weiß nicht.... 'wundervoll schreibst' klingt so nichtssagend. Denk Dir die Tiefe dazu.

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  6. Hallo Schreiber dieser Texte ohnegleichen,

    Ich bin ehrlich beeindruckt, ich lese viel und ich habe noch nie etwas gelesen, dass derart schön ist.
    Dein Schreibstil ist wie eine kleine Tür, durch die man geht, wenn man den ersten Satz liest. Dahinter ist ein Berg und ein Tal und dazwischen eine riesengroße Welt voller Tiefe und Farben und Kontraste, Traurigkeit, Erfahrungen, persönlichen Tupfern und eine gewisse Distanz.
    Schreib ein Buch! Oder hast du schon eins geschrieben? Auch wenn es nur Kurzgeschichten wären; ich könnte nicht mehr aufhören, darin zu lesen.

    Einfach "toll" (oder so)

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  7. Anonym14/4/10

    Wundervoll. Bezaubernd. Es bringt mich zum Träumen.. Ich bewundere deine Art zu schreiben.

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  8. dieser brief, ist mein lieblingspost von dir, ich habe ihn bestimmt an die 20 mal gelesen.
    du bist unglaublich und bewunderswert, bessere worte können mir im moment nicht in den sinn kommen.
    was muss das für ein wunderbarer mensch sein, mit gedanken wie deinen?!

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  9. Anonym22/6/10

    Aus deinen Worten tropft Weisheit. "Keine Ahnung" ist wohl das klügste, was man sagen kann.
    Darum gefällt mir dieser Brief sehr.

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  10. Anonym3/9/10

    DB, Phoebe und H, wie Holden?
    Der Fänger im Roggen?!
    Nur die Namen benutzt, Zufall oder doch aus Holdens Sicht geschrieben?
    Jedenfalls...ein sehr schöner Brief.

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