Reisebericht einer Selbstsuchung

23.5.
Ich befinde mich in Reisevorbereitungen.
Heute las ich einen Satz, der mich zweifeln ließ. „Vorher hatte ich nie geglaubt oder geargwöhnt, ich könnte eine Seele haben, aber nun wusste ich, dass ich eine hatte.“, so beschreibt der Erzähler die erste Begegnung mit seiner Seele. Er tauft sie auf den Namen Joe und von nun an steht sie ihm mit Rat und Tat zur Seite. Gar keine schlechte Sache, so eine Seele, denke ich. Aber bisher ist mir nicht aufgefallen, dass ich irgendetwas in mir habe, das einer Seele auch nur ähneln könnte. Ein simples ich, ein waschechter Charakter oder ein wirkliches Selbst würde mir ja schon genügen. Nichts von alldem hat sich bisher bemerkbar gemacht. Doch ich habe gehört, dass sich vieles in uns befindet, von dem wir nichts ahnen. In unseren Köpfen, Bäuchen, Knochen und Nerven. Ich denke, es ist am Besten, wenn ich mich selbst überzeuge, selbst in den Keller meines Unterbewusstseins hinabsteige, selbst suche nach dem Selbst. Damit mein Selbstversuch auch bis in das kleinste Detail nachvollziehbar ist, habe ich beschlossen, ein Protokoll zu führen, welches Sie gerade in Händen halten.
25.5.
Obwohl ich nicht weiß, was mich erwartet, versuche ich, mich vorzubereiten. Ich löse Gleichungen mit mehreren Variablen im Kopf und laufe durch die Einöde unserer riesigen Stadt. Ich gehe in die Bibliothek und lese über ähnliche Experimente und wie gefährlich sie waren. Ich stelle eine Ausrüstung zusammen, zwei Taschenlampen, eine Regenjacke, zwei Paar Socken, eine Packung Aspirin, die zwei Bücher, die immer ungelesen auf meinem Nachttisch liegen, vitamingespickten Proviant, meine Armbanduhr, eine leere Landkarte und einen Bleistift, H2.
Langsam ist es Zeit, Abschied zu nehmen, doch das fällt mir nicht schwer, der Regen prasselt wieder einmal auf die ohnehin schon hässlichen Straßen und gegenüber reißen sie das Haus ab, warum, weiß ich nicht.
26.5.
Startzeit meiner Reise: 11:41 Uhr und 17 Sekunden.
Ich habe meiner Ausrüstung noch eine Packung Streichhölzer hinzugefügt.
27.5.
Ich wandle nun in den Gefilden meines Denkens, Bereiche, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat und nie sehen wird.
In dem Moment, in dem ich dies schreibe, sitze ich in einer Art Höhlengang, von oben und unten ragen Tropfsteine aus dem Fels, doch die Taschenlampe weist mir den richtigen Weg durch die Dunkelheit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier so viele Gefahren lauern, wie die Psychologen immer erzählen, denn es sieht nicht so aus, als ob hier noch irgendetwas hausen würde, das sich bewegen, geschweige denn denken kann. Wahrscheinlich werde ich ein paar Tage hier unten verbringen müssen, darauf habe ich mich nicht eingestellt. Aber jetzt kann ich noch nicht zurückkehren, an die Oberfläche mit ihrer ermüdenden Realität, fürs Erste bleibe ich in mich gekehrt.
Ich setze meine Suche in die Richtung fort, die abwärts führt, tiefer in das Unbewusste.
28.5.
Langsam kann ich erahnen, wovon die Geisteswissenschaftler sprechen, wenn sie vor den Gefahren warnen. Es folgt die kurze, aber möglichst genaue Beschreibung einer Situation, in der ich mich heute befand und die mich zutiefst verschreckte:
Zuerst nahm ich nur eine Fackel wahr, die an der Wand der Höhle hing und ihr schwaches Licht schenkte. Es überraschte mich, hier so etwas echtem zu begegnen wie Feuer, doch unbeirrt ging ich weiter und stieß in immer kleiner werdenden Abständen auf mehr solcher Konstruktionen. Ich schaute mir eine von ihnen näher an, doch die Stoffe aus denen die Fackel gebaut war, sind mir unbekannt. Während ich noch versuchte etwas über die Bauweise der Lichtquelle herauszufinden, verdichtete sich plötzlich und schlagartig die Luft. Die Umgebung war nicht mehr klar erkennbar, nur noch Schemen und Schatten schwirrten vor meinen Augen. Farben bildeten sich zu Figuren, die immer mehr den Körpern von Menschen ähnelten. Menschen, die ich kannte, aber keine Menschen wie du und ich, sondern Menschen, die einem selten, aber regelmäßig begegnen und furchtbare Dinge zu einem sagen, meist kommen sie aus dem Umfeld der sogenannten Familie. Durch die Unschärfe meiner Wahrnehmung hindurch vernahm ich Stimmen. Aus Stimmen wurden Worte und aus Worten Sätze. Schreckliche Sätze, die mich seit meiner Kindheit verfolgen, Tage und Nächte lang. Sätze wie „Bist du schon wieder groß geworden!“ oder „Und was macht die Schule?“. Redewendungen wie „Kein Fleiß, kein Preis:“ oder „Von nix, kommt nix.“ Mein Kopf explodierte und die Farben rieselten von der Höhlendecke leise auf den Boden und ließen mich allein in meiner Umnachtung.
30.5.
Dinge, die mir passiert sind: Schlafende Löwen griffen mich an, tanzende Geldmünzen versuchten, mich zum Glauben an Geld zu bekehren, der Teufel wollte mir seine Seele und sein Lachen verkaufen, aber ich las das Kleingedruckte, ein schwarzes Loch riss mir eine tiefe schmerzhafte Wunde in den Körper, die ich mit meiner Socke verband, so gut es ging.
Dinge, die mir nicht passiert sind: Anzeichen irgendeines Charakters oder Ichs haben sich noch nicht bemerkbar gemacht.
31.5.
Durchhaltend immer noch nicht fündig geworden.
1.6.
Nichts.
3.6.
Ich gehe weiter, immer weiter. Durch die Gänge der Höhle, die gleich aussehen, ganz egal, wo man hinzeigt. Nichts als Felsen, die mithelfen, mein Blickfeld mit trockenem Braun zu umschließen. Niemand würde es merken, wenn er hier im Kreis laufen würde. In den letzten Tagen sind auch die Attacken meiner Halluzinationen seltener geworden und wenn sie angreifen, schließe ich einfach die Augen, denke an Geometrie, an griechische Philosophie und die Kämpfer des Wahnsinns müssen den Rückzug antreten, abgeschreckt von meiner kühlen Vernunft. Es müssen meine Halluzinationen sein, alles, was man hier sehen, fühlen, tasten, schmecken, riechen und was man sich hier einbilden kann, bin ich, ist Produkt von mir und meinem Denken.
Inzwischen habe ich eines der Bücher durchgelesen.
Aufgeben, auftauchen aus dem Unterbewusstsein, zurückkehren zur farbenfrohen Langeweile der Wirklichkeit? Weitergehen, einfach weitergehen.
8.6.
Der Bleistift brach in zwei Teile. Kein Fortschritt.
Mir fällt ein, dass ich seit langer Zeit weder getrunken noch gegessen habe. Keine Erklärung.
Unbekanntes Datum
Die Tristesse hier unten zerstört mich, ermüdet, zerteilt, zerfasert, mich. Ich bin zu erschöpft, um das Datum des heutigen Tags von meiner Armbanduhr abzulesen. Mein Zeitgefühl habe ich verloren, irgendwo dort, wo ich glaube, geschlafen zu haben. Wenn ich ehrlich bin, habe ich jedes Gefühl verloren. Eines nach dem Anderen sind sie mir weggelaufen, die Gefühle.
Unbekanntes Datum
Etwas ist anders, glaube ich zumindest. Ich kann meinem Glauben zwar nicht vertrauen, in dem desolaten Zustand, in dem er ist, aber je weiter ich gehe, desto weniger zweifle ich daran, dass etwas anders ist. Vielleicht wird die Höhle breiter, vielleicht wird die Farbe der Fackeln langsam heller und greller. Vielleicht sehne ich mich aber auch nur danach, dass es etwas anders ist.
2.7
Erst jetzt habe ich die Kraft, festzuhalten, was passierte. Ich bin am Ziel und am Anfang meiner Reise angekommen. In meinem Sessel schlürfe ich, halb liegend, halb sitzend, einen Tee, welche Sorte, das kann ich nur erahnen, denn nur auf leisen Sohlen schleichen sich meine Sinne, Gefühle und Gedanken wieder zurück in meinen Kopf. Das Ereignis hat mich mitgenommen. Es wäre schön, wenn ich sagen könnte, dass es mich auch erleuchtet hätte, oder etwas in der Art, aber das kann ich nicht. Denn ich habe etwas gefunden, was ich lieber nicht finden wollte. Es folgt eine kurze, aber möglichst genaue Beschreibung der Situation, aber nur unter Schmerzen und strenger Selbstbeherrschung ist es mir möglich, diese Zeilen zu verfassen Kurz nachdem ich notiert hatte, dass sich etwas verändert hatte, veränderte sich in der Tat etwas. Aus den Fackeln an den Wänden wurden Kerzen, aus den Kerzen Laternen und aus den Laternen schließlich kalte, nüchterne Glühbirnen. Auch die Höhle veränderte sich, der grobe, braune Fels wurde langsam immer glatter und geschliffener. Schließlich befand ich mich in einem mit Fliesen gekacheltem Korridor, der von nackten Lampen erleuchtet wurde.
Dann erwartete es mich unerwartet hinter einer Kurve. Das Ziel. Ich sah eine heruntergekommen aussehende Maschine. Rostiges Eisen war an faulendes Holz gekoppelt. Mitten in diesem Gerüst war ein wissenschaftlich anmutendes Glas befestigt, in welchem sich eine Art grüner Schleim bewegte. Auf einem Schild war zu lesen: „Das wahre Ich.“. Verblüffung verbreitete sich in mir, dann Enttäuschung. Dort vor mir stand das, wonach ich solange gesucht hatte aber eigentlich nicht finden wollte. Ich drehte mich um und löste mich auf.

1 Kommentar:

  1. iwouldprefernotto9/1/10

    Ich verliere mich auf den Straßen, im Schall meiner Schritte, wenn ich durch den Bahnhof gehe, in der Hoffnung jemand würde mich danach fragen, ob ich etwas verloren hätte.

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