Maneuver

Die ersten Bemühungen des Tages, dein Zimmer vielleicht von schwarz zu grau, vielleicht von schwarz zu weiß zu streichen. Die Schnüre deines Nachtkorsetts lösen sich langsam von blutdurchtränkten Träumen. Du setzt dich auf und das Licht ist noch an. Zwei Zitate des vergangenen Abends, vier fünf Augenschläge weiter links Kampfhandlungen zwischen dir und deinem Spiegelbild. Konflikt: "Wo bin ich"___ Aus dem Laken gekrochen, die Vorhänge aufgezogen, unter dir kein Gebirge, kein Meer, nur eine mittelgroße Stadt in einem mittelmäßigen Land.
                                                                            Dein Kopf entfaltet zerknitterte Erinnerungen, umständlich formulierte Splitter eines Gesterns, das sich mit der Kreide in den Asphalt gebissen, mit der Spraydose an die Wand gekettet, mit dem Kugelschreiber in deine Haut gekratzt hat. Das Radio bespielt den Frühstückstisch mit Samstagmorgenmusik, nippt an deinem Glas Orangensaft (ohne Fruchtfleisch). Deine Hand fährt mit 97 km/h durch deine Locken. Auch wenn du noch lange nicht bei Sinnen oder Verstand bist: irgendetwas FEHLT. Du fasst dir an die Ohren, nein, den Schmuck hast du gestern Abend auf die Kommode gelegt. Dein Handy? Du stapfst durch die Wohnung, deine Trägheit reflektiert das Licht von draußen fast vollständig, stapfst durch die Wohnung und hältst Ausschau danach. Gut getarnt identifizierst du es im Teppich vergraben – keine neue Mitteilung. Aber nein, der Hunger nach Vollständigkeit rumort noch immer in deinem Magen. Was ist hier los?
                                    Die Angst. Die Angst ist verschwunden. Auch noch, als du überall nach ihr gesehen hast. Es sind zwar Schmerzen geblieben, dort, wo du sie getragen hast, im Bauch, auf den Schultern, an den Füßen. Aber sie ist weg. Sie war dein Ehemann, deine Geliebte, die für so lange Zeit jedes Bett mit dir geteilt hat. Sie hat den Rückzug angetreten. Natürlich weißt du nicht, ob sie einen weiteren Vorstoß wagen wird, solange du noch am Leben bist. Aber sie ist fort. Ein französischer Dichter sitzt auf einem Sessel im Sofa und raucht Pfeife: "Und jetzt?"

13 Kommentare:

  1. kurz und doch nicht knapp.
    mit jeder zeile, die ich von dir lese, begeisterst du mich mehr.

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  2. "Die Angst nimmt mich bei der Hand und führt mich. Ein weißer zwirnener Handschuh. Ein Handschuh ohne Finger. Ich liebe, ich verehre die Angst. Beinah hätte ich gesagt: Wenn sie bei mir ist, habe ich keine Angst! Die Mathematiker müssten der Angst ein Zelt errichten, weil sie der Koordinatenschnittpunkt von Zeit und Raum ist: die beiden haben teil an ihr wie der gerollte Filz an einer kirgisischen Nomadenjurte. Die Angst spannt die Pferde aus in dem Moment, wo man zu fahren hätte, und schickt uns Träume mit grundlos niedrigen Zimmerdecke." - Ossip K. Mandelstam, "Die ägyptische Briefmarke", mit alleruntertänigsten Dank und Kuss an DZN.

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  3. es ist nicht nur schön es zu lesen - auch das aufnehmen und bilder dazu entstehen lassen ist einfach angenehm. ich mag dein geschriebenes sehr.

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  4. Anonym9/6/10

    unglaublich.
    du schreibst absolut krass.

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  5. Und wie ich geglaubt hatte ich könne schreiben.
    Wie Lauren einfach Recht hat.

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  6. Anonym2/8/10

    in ein paar jahren ist dir dieser hochprätentiöse, pubertäre gymnasiast-macht-auf-kerouac-um-bräute-aufzureißen-mist peinlich, hoffe ich.

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  7. rosé19/8/10

    Du bist ein Magnet.

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  8. beeindruckend, besonders der erste absatz

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  9. zu "was ist kerouac?"
    bitte schön:
    http://en.wikipedia.org/wiki/Jack_Kerouac

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  10. Wunderschön geschrieben, es hat wirklich spaß gemacht alles zu lesen und ich wurde traurig als es vorbei war ;) Bitte mehr davon!

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