Kratzen

Erstens: Wasser
Jasper hält inne. Jasper sieht sein Gesicht im Spiegel, das dunkle Haar, atmet tief ein. Die Tür öffnet sich immer wieder, und der Bass schwappt in Wellen herein. Ein Mann taucht ohne Notiz an Jasper vorbei und stellt sich an eines der Pissoirs. Das Rauschen des Urins gegen das Rauschen des Wasserhahns gegen das Rauschen in Jaspers Kopf. Jaspers Kopf, durch den Filmtitel rauschen, Loft oder Liebe, die Vögel, Madagascar, Andrei Rublev. Und der Rausch hängt als Gallionsfigur in jedem Raum hier, über jedem Kopf. Es ist heiß, Schweißperlen fluten Jaspers Gesicht. Er hält den Mund unter den Wasserhahn und stellt sich vor, offenes Meer zu schlucken. Ein Herzschlag ins Gesicht, ein Herzschlag in die Magengrube. Jasper stößt die Tür zu einer Toilette auf und verriegelt. Er sieht die Sprüche an der Wand. Kill Mario Barth. Er zaubert einen Kugelschreiber aus seiner Hosentasche und setzt ihn wie eine Spritze an seinen Oberarm an. Between grief and nothing I will take grief, kratzt er in seine Haut.

Zweitens: Ich
Dann vorbei an den Wortfetzen und den Worthülsen, durch die Menge der Tanzen, raus gekratzt, bis hierher und ein Ich entsteht. Das Ich läuft durch die Disco, stolpert, bewegt sich im Takt, verliert einen Großbuchstaben und ich entstehe. Das bin ich. Nennt mich Jasper.
Ich bin wie ihr. Glaubt nicht, ich wäre euch fremd und auch nicht, dass ich euch fremd bleibe, wenn ich weitererzähle. Ich bin wie ihr, ich könnte neben euch sitzen oder euch gegenüber. Ich zünde mir eine Zigarette an. Zwischen den Zügen erzähle ich, wer ich bin. Nennt mich Jasper. Meine Familie ist ein Trümmerfeld. Mein Vater ist gegangen, als ich acht war, ja, ich glaube, ich war acht. Manche sagen, er sei "abgehauen", aber das ist er nicht, er ist gegangen. Ich weiß es. Als ich vierzehn war, bekam meine Mutter Depressionen. Es geht ihr wieder besser. Ich hasse es, wenn Leute von "es schwer haben" sprechen.
Der Junge, der auf dem Hügel dort drüben zum ersten Mal ein Mädchen küsst, das bin ich und ich bin auch der, der wochenlang kein Wort spricht, nachdem das Mädchen ihn zum letzten Mal küsst. Ich bin Kapitän auf einem Schiff, mit der Angst als Gallionsfigur und meine Augen sind traurig, wenn ich es bin und auch, wenn ich es nicht bin. Ich bin nicht verzweifelt. Vertraut mir und nehmt mich nicht zu ernst. Wenn ich mit der Schreibmaschine tippe, mache ich zu viele Absätze, weil ich denke, dass alles so schwer sei und ich kann oft nicht schlafen. Ich bin vom Dancefloor aus nach Hause gefahren und liege auf meinem Bett. Morgen werde ich aufwachen und es wird ein Tag wie jeder andere sein. Ich liebe dich.

Drittens: Angst
Ihr seid alle nach Hause aufgebrochen, da bleiben nur noch ich und die Dame mit den langen, weißen Haaren. Die Dame mit den weißen Handschuhen. Sie hat mich schon aus ihrer Ecke angesehen, angelächelt, als ihr noch neben mir saßt, mir gegenüber ihr Glas erhoben, bevor sie dem dunkel schimmernden Rotwein Einlass gewährte, in das Tor ihrer vollen Lippen. Sie schwebt durch die Bar und setzt sich zu mir. Ich sage nichts. Gehe nur für einen Augenblick verloren im sanften Sog ihres Lächelns. Mein Blick bahnt sich einen Weg, vorbei an den Körpern der Betrunkenen und der wenigen Tanzenden, durch die Fensterscheiben, raus in den Schnee, bis auf den gefrorenen Asphalt. Und dann nimmt sie meine Hand und streichelt sie. "Wollen wir nach Hause gehen?", fragt sie, nachdem sie noch zwei Getränke für uns beide bestellt hat, ich weiß nicht mehr, was es war. Und ich sage immer noch nichts, lege nur meinen Kopf auf den Tisch und nicke kaum merklich.
Es ist kalt auf der Straße. Und in dieser Gegend gibt es zu wenige bunte Neonlichter, um nicht von "Verlorensein" zu sprechen. Es ist kalt und ich frage sie, die jetzt Hand in Hand neben mir geht: "Ist dir kalt? Du kannst meinen Mantel haben." "Das wäre vielleicht ganz gut. Wenn dir dann noch warm genug ist.", antwortet sie. Ich hülle sie in meinen schwarzen Matrosenmantel. Ob wir ein Taxi nehmen wollen, frage ich auch, aber sie schüttelt den Kopf. Wir gehen noch ein Stück, vorbei an den wenigen Kneipen der Betrunkenen, vorbei an der unangenehmen Disco der Tanzenden, durch den Schnee, in mein Viertel, und halten uns immer wieder gegenseitig fest, um nicht zu fallen, wir gehen noch ein Stück, bis ich sage: "Du bist die Angst, oder?" und sie sagt: "Ja, ich bin die Angst. Höchstpersönlich." Ich schlucke und atme tief durch. "Hm, ich hatte dich immer für jemand anders gehalten." "Wer bin ich für dich?", sagt sie. Und ich überlege eine Weile. "Der leere Raum, der zwischen unserer Haut bleibt, der keine Türen, keine Fenster hat. Das Dröhnen im Kopf, wenn man mit dem Schweigen wieder anfängt. Der Druck des Sterbens auf der rechten Schulter wie ein Papagei. Meine Gallionsfigur." – das sage ich nicht, ich würde mir merkwürdig vorkommen, so etwas zu sagen. Sie zündet sich eine Zigarette an.
Die Angst sitzt in meiner Wohnung auf meinem Bett. Sie sitzt dort nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal kann ich sie sehen. Sie ist schöner, als ich es mir vorgestellt habe und sie leuchtet in einem unwirklichen Glanz. In den Händen hält sie fest umklammert eine Tasse heiße Schokolade. Aus der Dampf aufsteigt, der ihr Haar kunstvoll verziert. "Warum bist du hier?"; sage ich und sie sagt: "Ich bin doch schon die ganze Zeit hier." Sie lügt nicht. "Du hast recht. Eigentlich kann ich mich nur noch an Angst erinnern. Vor meinen Augen wie ein weißer Schleier, der mich von allem trennt, an meinen Händen wie weiße Handschuhe, durch die ich nicht mal mehr beim Aufschlag den Asphalt spüre. Eigentlich kann ich mich nur noch an dich erinnern. Wie du mir in der U-Bahn gegenübersitzt. Wie du mir im Nacken sitzt. Angst. Angst. Angst." Diesmal sage ich es und komme mir merkwürdig vor. "Wovor, Jasper? Angst wovor? Wovor hast du Angst?" – "Ich weiß es nicht!" Ich bin aufgesprungen und fange dann an, zu weinen. Meine Beine sind plötzlich nicht mehr vorhanden, ich falle und weine. Schluchze und Heule. Sie legt sich neben mir auf das Parkett, nimmt meine Hand und streichelt sie. Irgendwann schlafe ich ein. Auf dem Küchentisch liegt ein kleiner gelber Zettel: "Ich verschwinde für eine Weile. Pass auf dich auf, A."

Viertens: Tag
Als ich aufwache, merke ich, dass die Wirklichkeit mich wieder hat. Ich spreche das Wort dreimal langsam aus. Buchstabiere es. W I R K L I C H K E I T. Und grinse und lache. Die Uhr flüstert mir leise zu, dass ich mit meiner Schwester Marie zum Mittagessen verabredet bin: es ist schon spät, Jasper. In die Dusche, die schwarze Jeans, ins weiße Hemd, in atemberaubender Geschwindigkeit. Ich komme fast noch pünktlich und da sitzt Marie. Als sie mich sieht, ist ihr Lächeln so warm, dass es durch das weiße Hemd direkt in mein Herz strahlt. Wir umarmen uns, dann setze ich mich ihr gegenüber, bestelle bei einer schönen Kellnerin Wasser und Spaghetti. "Weißt du noch"; sagt Marie, als ich der Kellnerin hinterher schaue, "weißt du noch, als du so zwölf oder dreizehn warst und gegenüber gab es diesen großartigen Italiener, direkt gegenüber von uns, und du warst unsterblich in die Kellnerin verliebt. Du hast immer nur Eis gekauft, wenn sie da war." Ich lächle und nicke. Ich weiß es noch, ich weiß noch, wie ich tagelang überlegt habe, wie sich ihre langen, braunen Locken wohl an meiner Wange anfühlen würden und ich weiß noch, wie sie eines Tages weg war. Und irgendwie nicht mehr wieder kam. Ich habe nie nach ihr gefragt. "Was ist deine schönste Erinnerung, Marie? An uns? Die Familie? Deine Kindheit?", sage ich. Sie überlegt einige Augenblicke. Sie zündet sich eine Zigarette an. "Als wir aus dem Urlaub in Italien zurückkamen, nachts mit dem Auto. Ich glaube, du warst nicht dabei, du warst bei Clara und noch ziemlich klein. Und es waren die Osterferien und Ostersonntag. Wir sind auf der Landstraße gefahren und das Land trug Trauer, weißt du, überall Osterfeuer, wie fliegende Kerzen, es war einfach… es hat überall gebrannt und…" Ich lächle und kratze die letzten Reste Spaghetti vom Teller. "Ich kann es nicht richtig beschreiben, es war, als würde irgendwo einer von diesen schrecklichen Kirchenchören singen."

Fünftens: Du

Du. Du liegst in meiner Wohnung auf meinem Bett. Du schläfst. Den Mund geöffnet, als würdest du zur Nacht beten. Ich höre Stimmen im Treppenhaus, du Stimmen im Traum. Du. Ich liebe dich. Zwei Buchstaben und drei Worte. Manchmal bahnt sich dein Blick einen Weg, vorbei an den Träumen aus Rauch und den Schlieren des Schlafs, raus in die W I R K L I C H K E I T, bis in meine Augen. Ich höre Stimmen, die "KITSCH!" schreien und uns als "KLISCHEE!" brandmarken und ich öffne das Fenster und ich packe sie am Genick und ich höre, wie die Stimmen fallen, durch den Schnee und auf dem Asphalt aufschlagen. Ich weiß es noch, der Winter stand vor der Tür und du hast gehofft, dass da dieses Mal auch jemand anders steht, jemand, der dir eine zweite Bettdecke bringt, weil eine nicht warm genug ist. Als du die Tür aufmachst, irgendwo zwischen den Gebäuden, stehe ich vor dir und kratze mich verlegen am Kopf. Ich kann auch nicht mehr tun, als Zigaretten zu kaufen für dich, und da zu sein. Aber. Vielleicht reicht das ja. Als ich los muss, weil es schon spät ist, küsse ich dich auf die Wange und du ziehst verschlafen meinen Kopf an deinen heran und sagst: "Jasper. Hörst du das wir in Wirklichkeit?"

18 Kommentare:

  1. Anonym17/9/10

    Großartig. Eine Herausforderung zum Lesen aber dennoch unmöglich, einen Satz nochmal zu wiederholen, da der nächste sofort gelesen werden will.

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  2. Anonym19/9/10

    Danke, danke, danke. Dankedankedanke.
    Ich habe jeden Tag nachgeschaut und sehnsüchtig drauf gehofft, dass ein neuer Post folgt.
    Danke.
    Lauren.

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  3. Anonym21/9/10

    wow. du wirst immer besser. verstehen werde ich dich trotzdem nie.

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  4. Anonym21/9/10

    und kunst und kitsch hat mich auch schon immer fasziniert. drin war ich nie.

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  5. Anonym30/9/10

    soll ich dich mit schmeichelnden worten überschütten, dir sagen, dass ich wegen dieser erzählung eine lange zeit mit nassen haaren dagesessen habe, obwohl ich längst zum föhn greifen wollte? soll ich dir sagen, dass du wahnsinnig gut schreibst (vor allem wahnsinnig) und dass du mich faszinierst? ich denke nicht. aber ich habe das lesen sehr genossen, danke.
    grüß a. von mir, sie ist öfter hier als mir lieb ist.... weiß auch nicht, woher sie den hausschlüssel hat.

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  6. Anonym11/10/10

    Sechstens: Sex

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  7. kannst du mir ein buch empfehlen in dem es um den tod geht oder viel über den tod geredet wird? am liebsten in der art von 'eine wie alaska'

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  8. keine worte vermögen zu beschreiben,wie du mit worten beschreibst,was du ohne worte zu sagen versuchst ! einfach klasse.

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  9. Anonym29/11/10

    das ist ziemlich gut,pass auf dich auf!

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  10. Anonym11/1/11

    alta voll die mies kitsch eh voll behindert schreiben weisste find isch voll hurensohn biatch magenschlag in dein hägendasz

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  11. Anonym11/1/11

    bzw

    herzlichst, rick

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  12. Anonym16/1/11

    wirklich sehr schön!

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  13. Anonym18/10/12

    Der Winter steht vor der Tür und ich hoffe, dass da dieses Mal auch jemand anders steht. Ein Indianer, der sich verirrt hat und deshalb Eiszapfen raucht, obwohl Friedenspfeife irgenwie besser wäre und überhaupt: Ich sitze im Sternenmantel, ich stehe in goldenen Schuhen.

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